Scrollen verboten?

Aus aktuellem Anlass: Immer wieder, wenn auch immer seltener, werden wir mit der Frage konfrontiert, ob man Websites so gestalten müsste, dass Scrollen nicht notwendig sei. Letzten Endes nicht nur eine Geschmackssache. Aber wieso hält sich diese Frage so hartnäckig im Universum?

Nicht ganz unschuldig an dieser Fragestellung (es wird auch gerne mal als Feststellung formuliert) ist vermutlich Jakob Nielsen, ein dänischer Usability-Experte mit nicht zu unterschätzendem Einfluss auf die Design-Welt. Von ihm stammt dieses Zitat: „Only 10% of users scoll beyond the information that is visible on the screen when a page comes up.“

Dieses Zitat begegnet uns fast immer, wenn wir auf das Thema angesprochen werden. Aber wie so oft: es fehlt der Kontext, in diesem Fall der zeitliche. Denn gesagt hat Jakob Nielsen diesen Satz 1996, also vor mehr als 15 Jahren. In Internet-technischer Relation gemessen ist das mehr als eine halbe Ewigkeit her. 

Persönlich muss ich anmerken, dass sich bei mir immer ein mulmiges Gefühl einschleicht, wenn Experten eine derart unumstößliche These formulieren. So auch hier. Aus eigener Erfahrung weiß ich natürlich, dass das Scrollen in den 1990ern nicht so flüssig von der Hand ging wie heute. Das liegt auch daran, dass 1996 die ersten Mäuse mit Scrollrad auf dem Markt kamen – und kann man heute noch eine Maus ohne Scrollfunktion erwerben?

Außerdem erfährt das Scrollen ganz ohne Zweifel gerade eine Renaissance – auf eine Art und Weise, wie es sich selbst Herr Nielsen im letzten Jahrtausend noch nicht vorgestellt haben wird: Auf unseren Mobilgeräten, gleich welcher Marke, egal ob Smartphone oder Tablet, wischen und schieben wir heute wie wild. Und finden das ganz normal, weil es intuitiv ist. Auch künftig wird diese Art der Navigation eine zentrale Rolle bei der Bedienung unserer Geräte übernehmen.

Im Design ist dieser Trend ebenfalls sichtbar, vor allem bei Produkt- und Landingpages: One-Page-Sites. Meist mit coolen Effekten (momentan voll hip: Parallax Scrolling) versehen, wird der gesamte Inhalt auf einer einzelnen Seite dargestellt – ohne Scrollen geht da nichts. Und auch das finden wir ganz normal.

Trotzdem: Ganz abtun möchte ich die These nicht. Denn das von den Printmedien bekannte (und funktionierende!) Prinzip „Above the fold“ zählt auch im Web. Das Wichtigste, das Interessanteste muss natürlich oben stehen und auf den ersten Blick in den Vordergrund treten. Und wenn es dann „abwärts“ geht, muss der User erkennen können, dass sich das Scrollen auch lohnen wird. Eine Frage des Inhalts wie auch der Gestaltung. Ein kategorisches „Scrollen verboten!“ halte ich allerdings für falsch.

Übrigens: Nur ein Jahr später, also 1997, hat Jakob Nielsen das Gesagte bereits widerrufen: „Scolling is now allowed!” Wie viele Dementis und Richtigstellungen hat das aber nur noch die echten Fans erreicht ...